Die vier „Drei Birken“  (Sommer 2013)

 

 

 

 

 

Der Weg nach oben: zunächst über frischen dunklen Asphalt, dann brüchigen und geflickten grauen Asphalt, dann über groben Schotter, den Parkplatz, hinein in den weichen schattigen Waldpfad, schließlich über den Pfad von dunklem Saftgrün in blass-trockenem Wiesengrün – dieser Weg lässt mich schwer und schwerer atmen, weil er so steil ist und weil er mich so unbegreiflich beschwert.

 

Ich erkenne die vier Birken sofort wieder als „Die drei Birken“. Sie stehen in der Mitte des Wiesenhanges und haben vierzig Jahre ohne auffallende Veränderungen überlebt. Sie sind nicht dicker, nicht brüchiger, vielleicht etwas zerfurcht.

 

Mit schwerer Lunge und schwerem Herzklopfen, aber leichten Beinen trete ich in ihren Schatten, drehe mich und überprüfe kurz den Ausblick und setze mich dann mit rundem Rücken an die äußere Birke. Nun sehe ich mit alten Augen über das weite Tal.

 

Und schon liegt vor mir eine Decke und darauf saßen nah nebeneinander Tom und Fine. Ferdi stand gebeugt mit langen leuchtenden Haaren neben ihnen und sprach ins Blaue. Antje hockte weiter unten und zog die Decke zurecht. Bastian hatte sich auf einer zweiten Decke ausgestreckt, Steff saß neben ihm auf den Fersen und sah hangaufwärts. Und ich, Lorik, näherte mich von den Birken her. Ich hatte den Getränken, die dort im Schatten lagen, zwei Flaschen Cola hinzugefügt. Ach und hinter den Birken sah ich Chris, er begutachtete die Getränke und drehte sich eine Zigarette. Er war unhaltbar wie immer. Ich, Lorik, hockte mich zwischen die Decken, offenbar unschlüssig, ob ich mir einen Platz auf einer Decke genehmigen durfte. Ich wusste nicht recht, zu wem ich mich gesellen sollte, mit wem ich quatschen wollte, wer mich haben wollte. So blieb ich hocken, zwischen Bastian, der die Augen geschlossen hatte, und Fine, die Tom zugewandt war, und wendete Chris, mit dem ich gern geredet hätte, meinen Rücken zu.

 

Alle waren meine Freunde. Manche habe ich seit vierzig Jahren gar nicht mehr, andere nur noch selten gesehen. Aber ich gehöre noch immer so unsicher zu ihnen, wie ich damals zu ihnen gehört habe: in der Hocke und dazwischen.

 

Erst heute sehe ich, dass auch die anderen keinen Überblick hatten.

 

Das Wetter schien damals ähnlich, aber es hielt sich weiter fern von mir. Es nahm nicht so aktiv an meinem Leben teil und ich übersah es meist. Aber ich erinnere mich sehr genau an das Licht, es war warm und gelb, weil die Wiese warm und gelb war.

 

Ich wälzte schon damals im Kopf die Erlebnisse, die ich erzählen konnte und nicht schon erzählt hatte. Ich legte mir zurecht, an welchen Stellen ich unterhaltsam und beeindruckend übertreiben würde. Dann galt es den Augenblick abzupassen, in dem ich meine Stimme über die anderen erheben und die Aufmerksamkeit auf mich ziehen konnte. Oft setzte einer der anderen zugleich an und ich zog meinen Beitrag zurück. Oft übertönte uns Ferdi und brachte uns zum Lachen. Hatte eine meiner Geschichten einen solchen Fehlstart erlitten, so war sie für Wochen unbrauchbar.

 

Nicht selten, wenn ich unschlüssig neben einer der Picknickdecken kniete, wandte sich mir eines der Mädchen zu, bezog mich ein und ich konnte ein wenig näher rücken. Sie taten dies, weil sie mich mochten, das wusste ich, doch mein schlängelnder Argwohn hielt mich auf Distanz. Sie unterhielten sich gern mit mir, weil ich so weich und langsam und so defensiv war. Und da ich ihnen mit meiner Zurückhaltung näher kommen konnte, kultivierte ich diese und überwand niemals ihre Mauern. Das taten die anderen Jungs, mehr oder weniger tollkühn.

 

Als ich zum Studium in eine andere Stadt zog, schrieben mir die Mädchen aufmunternde liebe Briefe. Besucht haben mich nur die Jungs.

 

Die Gemeinschaft zerfiel schnell. Von fern konnte ich nicht sehen, weshalb. Ich glaubte den abenteuerlichen Erzählungen von durchkreuzten Liebesbeziehungen.

 

Heute sehe ich anderes. Während ich an der äußeren Birke sitze, der Bodentau durch meine Hose dringt und ich auf die leere Grasfläche schaue, während ich das Geschrei und Klirren von damals höre, während ich weiß, was weiter aus mir geworden ist, dämmert es mir: Ich habe die Clique zusammen gehalten. Ich war das Zentrum. Unsere Anführer waren vielleicht Chris und Ferdi, aber ich war wichtiger. Ich war der Hüter unserer Freundschaft. Wir waren mir zuliebe zusammen.

 

 

 

Ich habe diese Rolle später noch oft übernommen, in den verschiedensten Gruppierungen. Etwas anderes Nennenswertes habe ich nicht zustande gebracht, nicht einmal eine Familie. Aber Gemeinschaften habe ich zusammengefügt und eine Zeit lang zusammengehalten.

 

Etwas kühler Wind kommt auf und meine Locken murmeln. Mein Gesicht ist heute noch so flaumig wie damals. Das Staunen und das unterdrückte Weinen haben meine Augen wässrig gemacht und eingetrübt. Ich glaube, dass meine ganze Erscheinung etwas Trübes hat. Aber umso lieber vertrauen sich die Menschen mir an.

 

Einmal waren wir nur zu dritt hier. Ich, Chris und Ferdi. Das war ein guter Abend. Wir haben weniger getrunken und leiser gesprochen und Ferdi war nicht so unentwegt witzig. Und ich saß lange Zeit in der Mitte, ohne dass es mir auffiel. Dann ging ich pinkeln und da fiel es mir auf und ich setzte mich an den Rand. Die beiden hatten begonnen, sich mit Hilfe der Autobahn, die in der Dunkelheit einen zweifarbigen Lichtstreifen abgab, die Relativitätstheorie zu erklären. Ich habe ihnen fast die ganze Nacht dabei zugehört und war glücklich. Ich war glücklich, dass die beiden so klug und verrückt waren und sich so gut verstanden.

 

Schlimm war es, als Fine für zwei Tage in die Anstalt kam, weil sie sich nicht an ihren Vater erinnern konnte oder wollte. Als sie wieder rauskam, ist sie nicht zu Hause geblieben, sondern wir haben drei Nächte hier oben verbracht. In wechselnden Konstellationen, aber ich und Fine waren in allen drei Nächte dabei. Tagsüber haben wir in der Stadt am Rathaus rumgehangen. Abends kamen wir hierher.

 

Fine zog später nach Brasilien.

 

Oder wie ich mit Tom zwischen der zweiten und der dritten Birke gestanden habe, die Fäuste über den Scheiteln, und wir riefen, nachdem wir den Bass geblubbert hatten: I heard the peavine whistle blow! Gelacht haben wir da nicht, keinesfalls.

 

Wir haben meinen 19. Geburtstag hier gefeiert, als Ersatz für meinen 18., da lag ich im Krankenhaus. Die anderen hatten alles vorbereitet, sogar Lampions aufgehängt und verschiedene Sorten Ouzo besorgt, weil ich den damals angeblich gern trank. Musik kam aus einer batterriegetriebenen Anlage, sogar mit Plattenspieler. Es waren meine Lieblingsplatten da, aber eigentlich hat mich die Musik an dem Ort gestört. Laute E-Gitarren passten dort einfach nicht hin und im Freien konnte man nicht tanzen, das sah zu sehr nach Freiluftgymnastik aus.

 

Ein paar Leute von unserem Abijahrgang waren auch da, aber die haben nicht sehr lange ausgehalten. Außer Nele. Meine Güte, die hatte ich ganz vergessen. Jetzt sehe ich sie da stehen, lässig an die vierte Birke gelehnt (so fand ich damals), vermutlich eher schüchtern von der vierten Birke gestützt (so denke ich heute). Sie trug die perfekte Jeansjacke, perfekt eng, perfekt schmuddelig. Und diese rote Samthose, glaube ich.

 

Sie hat in einigen Klassenräumen mit mir gesessen und ich war von fern in sie verknallt. Irgendwie schien sie immer am Fenster in der Sonne zu sitzen, ihre Haare glänzten und ich habe Stunden damit verbracht, davon zu träumen, wie ich ihren Kopf kraule. Sie blieb länger auf der Party und war, glaubte ich, erstaunt, was für abgefahrene Freunde und Freundinnen ich unscheinbares Würstchen hatte. Ich hab’s allerdings mit ihr vermasselt, weil ich davon überzeugt war, dass sie auf Chris scharf war.

 

Das Unbegreifliche ist, dass ich sie mal Jahre später bei einer Sylvesterfeier getroffen habe und sie in weinseliger Stimmung ganz nebenbei sagte: Weißt Du eigentlich, dass ich mal total in Dich verknallt war?

 

Ich sagte nur: Na, typisch.

 

Wie hätte sich mein Leben verändert, wenn ich das auf meiner Geburtstagsfeier gewusst hätte. Wahrscheinlich hätte ich mein Talent als Gemeinschaftsmagnet nicht weiterentwickeln können. Und doch würde ich alles dafür geben, auch wenn ich damit dieses feine Talent verpfuscht hätte.

 

 

 

Allmählich wird mir kalt an der äußeren Birke. Und mein Rücken zischt. Ich frage mich, wie lange ich damals hier hocken konnte, ohne dass mich die Knochen zum Aufstehen zwangen.

 

Als ich mich vorsichtig aufrichte, gerade beim konzentrierten Hochbiegen der oberen Wirbelsäule, kommt mir mein Leben vor Augen, als sei es ein Flucht- und Schlängelpfad an den Frauen vorbei gewesen. Ein Pfad, auf dem sich einige zu mir gesellt haben, aber der sich um enge Bindungen herumwindet. Ich habe viel Zeit gehabt, in der ich rücksichtslos mir selbst nachsinnen konnte, und viel Zeit, in der ich verdammt einsam war. Abende, an denen selbst Platten und Fotografien nicht helfen konnten.

 

Und die Frauen, auf die ich mich später eingelassen habe, habe ich nie lange gehalten.

 

 

 

Dafür hatte ich aber gute und sehr gute Freundschaften.

 

Es gab politische Gruppen, sogar drei, die Anti-Golfkriegs-Gruppe und die Pro-Afrika-Gruppe und die Anti-Plastik-Gruppe.

 

Teils zeitgleich die Skat-Gruppe und die Kollegen-Jogging-Gruppe.

 

Am längsten hielt die Konzert-Gruppe.

 

Und die PC-Zock-Gruppe sollte ich nicht vergessen, die hielt auch erstaunlich lange, war aber virtuell.

 

Und kaum zu überblicken sind die unzähligen Wohngemeinschaften. Ich habe genau vier Monate im Jahr 19xx mal allein gewohnt. Sonst nicht. Aber ich bin einige Male umgezogen.

 

 

 

Inzwischen bin ich Fotograf, spezialisiert, worauf wohl?, auf Gruppenfotos. Rufen Sie mich an, aber Achtung, ich bin teuer. Ich kann es mir leisten, teuer zu sein. Dabei bin ich handwerklich höchstens Mittelmaß. Was in dieser Branche allerdings kein großes Handicap darstellt, eher im Gegenteil, ja für mein Spezialgebiet in jedem Fall. Gerade Gruppen haben wenig Geduld und möchten nicht lange darauf warten, bis Licht, Kamera und Bildkomposition perfekt sind. Sie wollen ihre Beziehung feiern und das organisiere und verewige ich.

 

 

 

In der Anti-Plastik-Gruppe lief an einem Tag ungefähr die folgende Diskussion. Ich habe gefehlt, weil meine Mutter krank war, und später das Protokoll gelesen.

 

Nora: Wir könnten auch beide Varianten ausprobieren.

 

Gerd: Aber im Guten haben wir’s doch schon 1000 Mal.

 

Nora: Die eine Gruppe sammelt und überreicht freundlich mit Festakt und Presse. Die andere sammelt und stellt die Verpackungen in die Regale zurück.

 

Gerd: Das ist doch viel zu.

 

Erika: Diesen konformen Scheiß haben wir doch längst hinter uns.

 

Nora und Martin gleichzeitig (!): Ohne Lorik beschließen wir nie was.

 

Die Diskussion ging dann noch ungerührt bis ins Tausendste weiter, aber beschlossen haben sie tatsächlich nichts an jenem Abend.

 

Dabei war ich ein recht stilles Mitglied. Meine Beiträge beschränkten sich auf freundliches oder nachdenkliches Nicken und hin und wieder eine Verständnisfrage.

 

 

 

Meine Schwester - Gott segne ihre vielköpfige Familie - hat mich hin und wieder besucht und ihr Kopfschütteln über mein haltloses Leben wurde von Mal zu Mal ausgeprägter. Mich darauf direkt angesprochen hat sie nicht, dazu war ihr nicht klar genug, was sie denn nun eigentlich bedenklich fand. Vielleicht war auch ein Teil in ihr zu neidisch.

 

In den letzten Jahren hat sie es aufgegeben, herauszufinden, was mir fehlt, und es ist wieder angenehmer mit ihr.

 

Aber sie war es, die vor zwei Jahren Fine mitbrachte. Fine hatte viel erlebt und sah übermäßig gealtert aus, aber ich betrachtete nur ihre leuchtenden Augen, mit diesem Schuss Herbsthimmel, der mich schon früher fasziniert hatte.

 

- Weißt Du, dass ich auch in Hamburg lebe?, fragte sie und wir umarmten uns so lange, dass meine Schwester schon mal zum Kaffeekochen in die Küche ging.

 

Meine Schwester redete an diesem Tag besonders viel und Fine und ich wenig. Später reiste sie weiter zu unseren Eltern und Fine übernachtete bei mir.

 

Spät abends zeigte sie mir ein Foto, ziemlich abgegriffen, und darauf war unsere Clique zu sehen. Wir standen vollzählig vor den Birken, aufgedreht, fröhlich im Morgen- oder Abendlicht und das Irre war: Fine und ich hielten auf dem Foto Händchen. Ich war sprachlos, denn ich konnte mich partout nicht an das Foto erinnern, auch nicht daran, dass ich je Fine so an die Hand genommen hätte. Ich war sprachlos, öffnete den Mund und schüttelte immer wieder den Kopf.

 

- Siehst Du, was ich sehe?, fragte Fine und ich nickte und sah sie an und wir hatten beide Tränen in den Augen.

 

Also erzählten wir uns ein wenig von unseren Erinnerungen, aber nur ein wenig, als befürchteten wir sie auszuschöpfen.

 

Wir gingen sehr spät zu Bett und ich fragte nicht einmal, ob sie weit weg wohne und ich sie nach Hause bringen könne.

 

Beim Frühstück sprachen wir über das Foto.

 

- Wer hat das Foto gemacht?, fragte ich. Kannst du Dich erinnern?

 

- Du hast es gemacht.

 

- Aber ich bin doch auch drauf.

 

- Du hattest diese kleine Kamera mit Würfelblitz und Selbstauslöser.

 

- Ich hab die Kamera aufgestellt, bin zu Euch gelaufen und habe Dich an die Hand genommen?

 

- Und Du bist dabei ausgerutscht und hast Deinen Schuh verloren.

 

- Und trotzdem?

 

Als sie den Schuh erwähnte dämmerte mir etwas, aber nur vage. Es war mir, als hätte ich extra einen kleinen Slapstick eingeschoben, um die Gruppe aufzuheitern. Daran meinte ich mich zu erinnern.

 

Wir pusteten in unsere Kaffees und sahen uns immer wieder erstaunt an.

 

Fine verabschiedete sich nach dem Frühstück und gab mir ihre Telefonnummer.

 

- Lass uns die anderen zusammentrommeln und das Foto nochmals machen, sagte sie zum Abschied.

 

 

 

Jetzt gehe ich den dunkelgrünen Pfad hinunter. Ich gehe langsam und halte Ausschau nach Erinnerungen. Ich sehe, wie Tom und Fine mit dem Motorrad den Pfad heraufkamen. Weshalb sie das Motorrad nicht unten stehen ließen, weiß ich nicht, vermutlich aus Faulheit oder Angeberei.

 

Ich durchquere den Waldsaum, dort ist es schon recht düster, ich kann den Pfad zu meinen Füßen nur noch ahnen. Auf der Schotterstraße ist mir wohler und ich bleibe stehen für den weiten Blick über die Lichter der Stadt.

 

Ich schließe das Auto mit einer energischen Drehung auf und bringe mich so wieder vollends in die Gegenwart. Es geht mir gut.

 

 

 

Zurück im Hotel klopfe ich leise an Fines Zimmertür.

 

- Komme rein, da bist Du ja endlich.

 

- Was machen Deine Knochen?, frage ich und setzte mich auf die Kante des durchgesessenen Hotelsofas.

 

Fine hat sich einen Sessel mit Kissen ausgepolstert. Zu meinem Glück hat sie ihre Brille abgenommen. Ein Buch liegt auf ihrem Schoß.

 

- Es war unglaublich, sage ich. Der Ort hat sich nicht verändert. Und da liegen die Erinnerungen haufenweise herum.

 

- Ob das auch zu zweit funktioniert hätte?

 

- Vielleicht geht’s ja morgen?

 

- Antje hat nochmals angerufen, ihr Sohn hat jetzt doch Zeit. Sie fragt, ob wir zum Frühstück kommen.

 

Antje hat die Stadt nie verlassen, allenfalls mal für zwei Wochen Urlaub am Meer. Sie hat eine blühende Familie, die aber größtenteils weggezogen ist, einschließlich ihres Mannes. Ihr Sohn Hannes wohnt am Stadtrand und weiß vielleicht nicht, wem er folgen soll. Er ist wunderlich, aber hilfsbereit.

 

Er bringt das Internet mit und versucht mit Hilfe unserer Angaben die alten Freunde ausfindig zu machen.

 

Antje bedient das Telefon und bekommt schon bald Ferdi und Steff an den Apparat.

 

Er freut sich, wohnt im Süden und will kommen.

 

Sie ist überrumpelt, anscheinend nicht mehr sehr beweglich und zögert distanziert. Wir rufen nochmals Ferdi an, er lacht und verspricht, Steff auf seinem Weg mitzubringen.

 

Für Tom spricht Antje eine Nachricht auf ein Band. Er wohnt nicht weit in Richtung Westen.

 

Bastian und Chris können wir trotz weltweiter Vernetzung nicht finden. Das macht uns traurig, aber Hannes verspricht einen schlaueren Freund zu fragen und macht uns Hoffnung.

 

Am Abend ruft Antje mich im Hotel an und teilt mir mit, dass Tom sich gemeldet habe. Er leite noch zur Hälfte eine Filiale und habe seine kranke Frau zu versorgen, sei aber hocherfreut gewesen und versuche sich für einen Tag freizumachen.

 

 

 

Fine ist heute Abend besser zurecht und wir machen auf ihren Wunsch hin eine Spaziergang durch das Viertel, in dem sie aufgewachsen ist.

 

Seit sie vor vierzig Jahren in der Anstalt gewesen war und drei Tage bei den Birken übernachtet hatte, war sie nur noch einmal dort gewesen um ihre Dinge zu holen.

 

- Heute denke ich, dass mein Vater ein armes Würstchen gewesen ist, jemand, der sein Leben lang auf die Rückkehr seines eigenen Vaters gewartet hat und deshalb nicht selbst Vater sein konnte. Und meine Mutter hat sich mehr um ihn als um uns gekümmert.

 

- Und dennoch bist Du so stark, sage ich.

 

- Oder deswegen, sagt sie.

 

Wir biegen um eine Ecke.

 

- Ach, hier war das Geschäft von Frau Rodt, die hat mein Elend bemerkt.

 

Wir bleiben an einer abgeflachten Hausecke stehen, die Ladentür ist zugemauert, aber ihre Umrisse sind noch deutlich.

 

- Sie versuchte mir mit Bonbons zu helfen.

 

Fine lächelt.

 

- Sie war unglaublich dick und sehr gutmütig. Sie muss riesige Verluste gemacht haben, weil die Jungs sie nach Strich und Faden beklaut haben und weil sie uns obendrein noch Geschenke gemacht hat. Ich hatte sie ganz vergessen. Ich will nur einmal kurz mein Elternhaus sehen. Katharina hat es verkauft, als Mama starb.

 

- Ja, ich weiß.

 

- Mama hat mich manchmal besucht. Ich sie nicht ein einziges Mal. Miese Sache, nicht?

 

- Von wem?

 

- Ach, von mir. Zum Glück hat sich Katharina um sie gekümmert.

 

- Katharina hab ich nie bemerkt, die war einfach zu klein für uns.

 

- Katharina ist toll.

 

Wir gehen langsam, sie hat ihre Hand unter meinen Arm geschoben. Sie nimmt sich soviel Halt, wie sie braucht.

 

- Hat sich nicht sehr verändert.

 

Wir bleiben stehen und blicken auf ein gedrungenes Backsteinhaus, umrankt von allerlei Blumen und abgeschirmt durch ein gepflegt gekiestes Vorgärtchen.

 

- Da drüben hinter der Ecke musste ich Dich immer rauslassen, wenn ich Euch mit dem Auto meines Vaters nach Hause gefahren habe.

 

- Ja, weil wir so laut waren.

 

 

 

Ich rufe Ferdi an.

 

- Mensch, Lorik, das ist ja ne Sache!

 

- Bastian haben wir über seinen Bruder ausfindig gemacht. Er lebt in einem Altersheim an der Küste. Ich werde ihn mit dem Auto abholen.

 

- Das Letzte, was ich von Chris gehört habe, kam aus Berlin.

 

- Ja, das war auch im Internet zu lesen. Antjes Sohn hat da eine Seite gefunden, wo Gemälde präsentiert wurden, unter dem Namen, an den Bastian sich erinnert hat.

 

- Wie nennt er sich?

 

- Vince Money.

 

- Puh.

 

- Allerdings.

 

- Ich hab kein gutes Gefühl. Es ist als sei er untergegangen.

 

- Das wollte er eigentlich schon immer.

 

- Mit Mann und Maus.

 

 

 

Wir treffen uns an einem Wochenende im Mai im alten Marktcafé. Das hat alle Zeiten überdauert und war schon früher nur für alte Leute.

 

Bastian und ich kommen eine halbe Stunde zu spät, weil wir im Stau gesteckt haben. Ferdi hat Steff mitgebracht, sie sind schon am Vormittag im Hotel angekommen. Ich und Fine haben ebenfalls dort Quartier bezogen. Tom kommt pünktlich in einem gewaltigen Mercedes vorgefahren. Antje kommt mit dem Bus.

 

Einzig Chris haben wir nicht auftreiben können. Seine Gemälde sind scheußlich und haben keinen Kontakt hergestellt.

 

Zuerst reden wir viel über ihn. Erst allmählich werden wir offener und machen uns selbst zum Thema.

 

Wir sind vertraut und der Umgang ist rücksichtsvoller. Wir sind verschieden weit gealtert, aber das fällt nicht so auf, als wir um den Cafétisch sitzen.

 

Ich glaube mich in ihrer Gesellschaft viel wohler zu fühlen als damals. Ich bin mir meiner selbst sicher und weiß um meine zentrale Rolle.

 

Tom sagt zu mir:

 

- Ohne Dich hat die Clique nicht mehr lange gehalten. Ohne Dich haben wir keine vollständigen Verabredungen mehr getroffen. Es fehlte immer wer.

 

- Aber ich hab doch nicht zuerst angerufen, wenn wir uns verabreden wollten.

 

- Aber wir haben Dich zuerst angerufen, sagt Steff.

 

Na sowas.

 

 

 

Die Stimmung im Raum ist vornehm verschwommen. Auf dem Weiß in Weiß gemusterten Tischtuch entstehen neue Kaffeeflecken, ebenso auf Bastians Hose. Tom fährt immer wieder mit der rechten Hand ins Gesicht als steckte dort eine dicke Zigarre. Bastian wusste gar nicht mehr, dass er so gut zuhören kann. Er lächelt fein und schief. Steff sieht ihn an und denkt an ihren ersten Mann. Ferdi unterhält sich über mich hinweg mit Fine und ich säße jetzt doch gern bei Steff. Also schiebe ich meinen Stuhl nach hinten und gehe auf die Toilette. Danach ziehe ich mir einen Stuhl vom Nachbartisch zu Steff heran und frage sie nach ihrem Leben. Antje hat ihren Kopf Tom zugeneigt und fragt ihn nach seinem Beruf.

 

- Ach nee, heute nicht, sagt er.

 

Wir sprechen kreuz und quer über das Wohnen. Wohnen allein, Wohnen mit Familie, Wohnen mit Balkon oder ohne Barrieren, Wohnen mit gekaufter Betreuung und mit heimgezahlter Betreuung, Wohnen mit schwarzen Nächten und kurzen Tagen und langen Stunden.

 

Es macht mir Spaß, dass sich alle schwer damit tun, nach Fines und meiner Wohnlage zu fragen. Ich höre, wie Fine zu Ferdi sagt:

 

- Es ist irre romantisch, wir wachen morgens zusammen auf.

 

Dabei sieht sie ihm so arglos in die Augen, dass er sich die Ohrläppchen reiben muss. Endlich erlöst sie ihn mit einem Grinsen.

 

- Ihr wohnt wirklich zusammen?, fragt mich Steff.

 

- Ja, wir haben einfach die ganze Wohngemeinschaft übernommen, zwei Etagen, viel Platz. Genau richtig.

 

- Wir können uns so restlos ignorieren, ruft Fine dazwischen.

 

Ich lache mit. Sie hat Recht.

 

- Habt Ihr noch Platz?, fragt Bastian.

 

 

 

Am Nachmittag fahren wir in drei Autos zu den vier „Drei Birken“. Das Wetter strahlt und die Luft ist angenehm kühl. Antjes Sohn Hannes ist dabei, um Fotos zu machen.

 

Ferdi und Tom gehen forsch vorne weg.

 

Antje und Steff sind zurückgeblieben und unterhalten sich angeregt.

 

Bastian kämpft verbissen allein mit dem Weg.

 

Fine ist still und gerührt und hat sich bei mir untergehakt.

 

Ich sorge mich um alle.

 

Hannes geht abseits und macht Fotos. Er hat eine gute Kamera.

 

- Ist ja unglaublich, hat sich kaum verändert, sagt Fine.

 

- Hab ich Dir doch gesagt, entgegne ich stolz.

 

Ferdi dreht sich um und ruft:

 

- Steff, Mensch, weißt Du noch, wie ich hier die Blumen vollgekotzt habe und Du mir in den Hintern getreten hast, so dass ich vorn über gefallen bin. Kotzend, wohlgemerkt!

 

- Quatsch, sagt Steff.

 

- Doch!

 

Ich erinnere mich daran. Ich hatte Angst, dass er auf sie losgeht, denn er war wütend mit der Kotze in den langen Haaren. Aber er war auch sehr betrunken, fiel um und sein Zorn verrauchte, weil er die Sterne so schön fand. Ich hab’s vor Augen, als wäre es letzte Woche passiert.

 

- Da warst Du stinkwütend, sage ich und Fine lacht.

 

- Siehst Du, Lorik und Fine wissen es auch noch.

 

Steff wirkt ein wenig pikiert.

 

 

 

Tom hat sich auf das Gras unter die Bäume gelegt und beobachtet die Blätter vor dem leeren Himmel.

 

- Irgendwie klappt’s nur im Ansatz, sagt er.

 

- Was?, fragt Antje.

 

- Die Zeitreise.

 

- Gruppenreisen sind schwierig, sage ich.

 

- Gruppen sind überhaupt schwierig, sagt Antje.

 

- Wünscht Du Dich zurück?, fragt mich Fine.

 

- Ja, sage ich ohne Vorbehalt.

 

Sie sieht über das Tal, die Häuser im Grün, die Autobahn, die Kirchtürme.

 

- Ach nein, nicht noch einmal all der Scheiß, sagt sie.

 

- Ich könnt schwören, dass Du das hier schon mal gesagt hast. In genau dem Tonfall, sagt Bastian.

 

Wir sehen Fine an und hören ihre Stimme zum zweiten Mal.

 

 

 

Wir stellen uns auf, sieben alte Menschen, die sich mit Mutwillen gerade halten, die sich die Rührung vom Leibe halten und auf ihr stilles Kämmerlein freuen.

 

Aber wir achten mit Sorge aufeinander. Wir drängen uns nicht mehr ins Bild wie damals, sondern stehen still, um den anderen ihren Raum zu lassen. Wie einige Fotos später zeigen, sehen wir alle nicht immer in die Kamera, sondern betrachten uns gegenseitig.

 

Die Idee, das alte Foto genau nachzustellen, verwerfen wir einvernehmlich.

 

- Das T-Shirt würd mir auch gar nicht mehr stehen, sagt Tom und meint das Maiden-Shirt, das er von einem Konzert mitgebracht hatte und eine zeitlang nur selten zum Waschen auszog.

 

- Und passen auch nicht, ergänzt Ferdi.

 

Hannes macht viele Fotos und verspricht, sie schon heut Abend ins Bräuhaus mitzubringen.

 

 

 

Und tatsächlich, wir sitzen Punkt 19.00 Uhr um einen schweren Tisch in gediegen staubiger Atmosphäre. Wir lassen die neuen Fotos und alte Fotos kreisen. Zunächst reden wir nicht miteinander, sondern zu uns selbst. Dann setzen die Nachfragen und Vergewisserungen ein.

 

- Hattest Du dies Kleid nicht selbst genäht?

 

- Hat uns dein Vater sein Auto geliehen?

 

- War ich da auch bei?

 

- Von wem war denn dieses Fahrrad?

 

- Weißt Du noch, wie.

 

- Ich kann mich partout nicht erinnern, dass.

 

- Wo war ich denn da?

 

Und Bastian hat Tränen in den Augen und Steff mit ihm und beide sagen nicht, weshalb.

 

 

 

Die Planung hat schon an diesem Abend begonnen. Zunächst war da nur eine unbeachtete Idee von Fine, die sie zuerst gegenüber Tom, später mir gegenüber, dann laut äußerte. Und je mehr der Abend uns rührte, desto mehr leichtsinnige Vorschläge wurden zu dem Thema gemacht.

 

Und wir sind zu alt um uns mit haltlosen Plänen zum Narren zu machen.

 

 

 

Zuerst: Bastian ist bei uns eingezogen, teils auf Fines, teils auf meiner Etage.

 

In sein Pflegeheim hatte er sich eher aus Gründen der Einsamkeit zurückgezogen, denn aus körperlichem Gebrechen. Seine Frau war vor fünf Jahren gestorben und sein einziger Sohn wohnte schon seit 10 Jahren als Pianist in New Orleans, zumindest behauptet das Bastian. Ich frage mich allerdings, wozu die Leute dort einen deutschen Pianisten gebrauchen könnten. Für Bach, Brahms und Beethoven?

 

Zu dritt waren die Tage sehr anregend, wurden dann aber zunehmend anstrengend. Oder eigentlich auch nicht.

 

Außerdem ist es nur vorübergehend.

 

Tom ist dabei, die Villa seiner Eltern umzubauen. Er hat sich endlich pensionieren und satt abfinden lassen und er braucht somit keine Kosten zu scheuen.

 

Tom und seine Frau, Fine, ich und Bastian werden im kommenden Mai dort einziehen.

 

Ferdi braucht noch eine Weile um seine Angelegenheiten zu regeln, aber er hat sich für das nächste Jahr angekündigt.

 

Antje kann sich nicht von ihrem Haus trennen, hat sich aber schon drei Zimmer reserviert und wird sie sich vorerst als Zweitwohnsitz einrichten.

 

Steff hat uns für verrückt erklärt, aber Tom hält ihr dennoch eine kleine Wohnung frei.

 

Sogar für Chris hat er ein Zimmer bereit.

 

Der Garten ist wunderbar. Er hat sogar drei ausgewachsene Birken.