Europa, 21.3.20
Meine verehrten Leserinnen,
meine lieben Leser,
nun sitzen wir hier, auf unser Heim verwiesen, die Sonne scheint, der Frühling beginnt und tut, was er kann und ist doch nicht so, wie er war. Wir schauen uns und unsere Nächsten an und müssen uns mühsam darauf besinnen, was wir denn eigentlich können.
So lassen wir denn gemeinsam die Geschichten wieder aufblühen.
Und dort finden wir eigentümliche Orte, erleben Zauberei und Spinnerei und wir begegnen Phileas. Mit ihm drängen sich in unserer Vorstellung seine zahlreichen Freunde, seine vielfältigen Lehrmeister und die unüberschaubaren alten Mächtigen der alten Welt. Und wir sehen zu und denken aus, was denn geschehen wird.
Nur zu, seien wir stolz und gehen wir mit!
Kapitel 1
Brokat im Wasser
Phileas ordnete die schaumigen Gestalten, welche sich neu und neu auf den nachtgrünen Wellen erhoben, immer wieder aufs Neue. Der Abend rauschte. Phileas zog sich enger zusammen. Wer ihm in die Augen sah, konnten die Pupillen pulsieren sehen – vorausgesetzt, sein Blick war ebenfalls talentiert und meisterhaft geschult. Phileas saß schon eine lange Weile auf einem flachen Fels, sah die Flut über Sand und Findlinge schwappen und begann allmählich die Formen und Wellen vorauszuahnen.
Es schien ihm wieder so verzweifelt nahe, die Struktur auch ohne Stift oder Pinsel greifbar formen zu können. Nur mit Blick und Vorstellung. Doch es war wie immer, es verließen ihn zu schnell alle Kräfte. Das war nicht verwunderlich, wenn man sich zuvor mit fröhlichem Mutwillen in den letzten Hafenkneipen verausgabt hatte.
Phileas lächelte abgedreht im Gedanken an die Meistertrias, die nun für seine Darbietung in der östlichen Spiegelhalle zusammengekommen sein musste. Tief in den Ostausläufern des Festungsberges, dunkel über der alten Seestadt, in die er sich entzogen hatte. Zwei Möglichkeiten kannte er, sich dem suchenden Auge von Meister Rugbur, wenn nicht unsichtbar, so doch zumindest verschwommen zu machen. Entweder man war bis zur Bewusstlosigkeit betrunken – das war ihm heute nicht geglückt – oder man war auf dem Wasser. Es war ein Geheimnis des Meisters, dass er vor Jahren beinahe in der Rubensee ertrunken war und seitdem seinen Blick nicht mehr über Salzwasser führen konnte. Phileas hatte sich dieses fremde Geheimnis in einer seiner langen Nachtsitzungen selbst ermalt und seitdem auf Vorrat gehütet– manchmal stieß man wie nebenbei auf nützliche Kleinigkeiten.
Sein Lächeln wurde breiter, wenn er sich das Gespräch vorstellte, zu welchem man ihn unweigerlich vorladen würde, sollte er sich jemals wieder in der Hohen-Berg-Schule blicken lassen. Er malte sich handfest Meister Romzests Blick aus, wie er sich hinter bösartige Langeweile zurückziehen würde, während Phileas ihm darlegte, dass es sich um einen Versuch gehandelt habe, um den Versuch, sich selbst allein Kraft der Verärgerung der drei Meister in ihre Mitte zu teleportieren. Leider habe es nicht funktioniert, er bitte ehrfürchtig um Verzeihung.
Meister Ilas würde ihm vermutlich eine vorwurfsvolle Rede voller Moral und Lehren vorhalten, während Romzest auf seiner funkelnden Lippennarbe kauen, die Brauen runzeln und dann mit leerem Blick den Raum verlassen würde.
Phileas genoss in diesen wilden Phantasien hochmütig seine eigene Unverschämtheit, aber schließlich vernebelte sich sein Blick. Mit der unvermuteten Erschöpfung kam eine dämmrige, nachträgliche Trunkenheit und sein Kopf sank ihm auf die hochgezogenen Knie. Vermutlich wäre es weitaus besser, diese und alle Szenen sich und den Meistern zu ersparen.
Er ließ sein geistiges Auge über das Meer gleiten, als könne er sich dadurch selbst entkommen und seine Pläne auflösen und da nahm er eine Störung wahr. Eine Kräuselung, wie sie nicht in der Schwärze vor ihm, nur im Lichtgewirr hinter ihm zu erwarten war. Seine Konzentration erwachte wieder, zunächst träge, und band sich an den kleinen Bruch im Meer, näher dem Horizont als dem Ufer. Phileas sah suchend auf, doch sofort war die Wahrnehmung verflüchtigt. Er schob sein Gesicht wieder tief zwischen die Knie, fand den Bruch und knüpfte die Stelle fest in sein Gesichtsfeld. Er verharrte.
Dann sprang er auf, rannte los, bis zu den Hüften ins Wasser, drehte, steckte den Kopf in eine Welle, schüttelte sich und wühlte sich wieder aus der Brandung heraus. Er vergewisserte sich der Bezugsstelle, dann lief er in die Stadt hinein, die Rosengasse entlang, mit nassen Hosen, die Fährenstraße hinunter, zu den Kais. Dort zögerte er kurz, machte sich daran, ein Boot zu malen, doch er schüttelte schnell den Kopf, wischte die löchrige Vorstellung beiseite.
Also lief er einen Holzsteg entlang, packte einen rauchenden Jungen am Kragen, sprang in dessen Jolle, ein paar Münzen fielen ihm aus der Hand und schon ruderten sie, geleitet von Phileas Markierung.
- Hin, Herr?, fragt der Junge und sah mit seegrünen Augen unter seiner Kappe hervor, während er sich mager, aber mit Geschick in die ächzenden Ruder lehnte. Er trug nichts als eine dunkle Weste auf der gebräunte Haut und einen zu weiten Seemannsrock. Sein ganzes Hab und Gut war unter der Sitzbank verstaut und er thronte darauf mit dem Hochmut eines unbesiegten Königs.
- Raus aufs Meer.
- Klosterinsel.
- Nein, nein, raus aufs Meer.
Der Junge hielt den Kurs. Die See war ruhig, strahlte aber eine gehässige Kälte aus. Phileas starrte ins formlose Grau, seiner Markierung entgegen.
- Schlecht, Herr, Zahndelfine.
- Weiter.
Der Junge hebelte die Ruder aus dem Wasser. Das Boot schaukelte und Phileas bemerkte, dass er noch immer stand. Schwer ließ er sich auf die hintere Rückbank fallen. Ein Zuviel an Rausch und Schwung hätte ihn fast über Bord rutschen lassen und ein prickelnder Schreck fuhr ihm durch den Rumpf. Er griff panisch nach der niedrigen Bordwand.
- Das ist zur Zeit mein einziges Boot, sagte der Junge.
- Still!, zischte Phileas, schloss die Augen und fing mit Mühe die Richtung seiner Markierung wieder ein.
Der Junge hielt die Ruder hoch und fragte sich, ob er den seltsamen Gast über Bord stoßen sollte. Phileas bemerkte das leichte Schimmern, welches das wachsende Misstrauen vor seinem Auge erzeugte.
- Schön ruhig, brummte er vor sich hin. Dann schloss er wieder die Augen, krallte zu beiden Seiten die Hände fest um die Reling und zog den Kopf ein.
- Bleib ruhig, sagte er schließlich, da hinten treibt etwas im Wasser, das ich mir ansehen will. Sei sicher, es sind keine großen Meerestiere in der Nähe. Ich kann die sehen.
- Meerhörner können tief, sagte der Junge.
- Wie heißt Du.
- Seeling.
- Also Seeling, mach Deinem Namen Ehre und verdien Dir den doppelten Fahrpreis.
Seeling tauchte die Ruder ins Wasser.
- Ihr könnt unter Wasser sehen?
- Ja.
Seeling stemmte sich vorsichtig gegen die Ruder, als wolle er möglichst geräuschlos Fahrt machen.
Hin und wieder korrigierte Phileas den Kurs, ansonsten schwiegen sie. Es wurde nun schnell grauer und dunkler um sie.
- Herr, wir verlieren die Lichter aus den Augen.
- Keine Angst, ich sehe die Stadt auch ohne Licht.
- Ich hab zur Zeit nur ein Boot.
- Was heißt zur Zeit?
- Ich hatte noch eine Mogelbrasse, mit einem blauen Segel, Herr.
- Dir gehört ein Segelschiff?
- Eine Mogelbrasse, Herr.
- Und jetzt?
- Dackjimm hat sie.
- Mehr nach rechts.
Phileas zeigte mit dem ganzen Arm.
- Wer ist Dackjimm?
- Dackjimm hat sie verspielt, Herr.
- Verspielt?
- Mein Bruder.
- Dein Bruder hat Dein Schiff verspielt, was ist der denn für'n Arsch?
Seeling ruderte.
- Dort!, rief Phileas.
Aus dem ruhigen Wasser erhob sich flach eine Blase von Brokatstoff, rot mit Gold. Das Gekräusel zeigte, dass darunter noch mehr war. Ab und an tauchten Gliedmaßen auf.
- Ich habs geahnt, sagte Phileas. Los hilf mir, wir müssen ihn ins Boot ziehen.
Seeling hatte sich auf der Sitzbank umgedreht.
- Ein Toter!, rief er. Herr!
Die Leiche trieb längsseits, Phileas packte den Stoff, das Boot senkte sich und ehe er wusste, was geschah, war er über Bord gekippt.
- Scheiße!, rief er gurgelnd. Das Wasser war eisig.
Ein Arm der Leiche schien ihn zu umfangen.
- Bäh!, rief Phileas panisch.
Noch immer hielt er das goldene Wams des Toten.
Seeling hatte ein Ruder festgehakt und streckte es nach vorn in Phileas Richtung.
- Herr, lasst ihn los. Hier.
Phileas packte das Ruder, fluchte, trat wild ins Wasser und konnte sich schließlich mit Seelings gezielter Hilfe ins Boot drücken. Keuchend und zitternd saß er auf dem Boden. Das Boot schaukelte wild, doch Seeling brachte es schnell zur Ruhe.
- Wo ist er?, rief Phileas und wischte sich Wasser aus dem Gesicht. Er kam wieder zu Atem und verfluchte den Tag und die Kälte und sich selbst.
- Seid Ihr fertig?, fragte Seeling schließlich in einer Atempause.
Phileas grunzte. Er saß noch immer breitbeinig auf dem Boden.
- Bleibt so sitzen. Schaukelt nicht. Ich hole ihn raus. Aber Ihr dürft nicht schaukeln.
- Schaffst du das?
- Nicht schaukeln!
- Ja, ja.
Phileas senkte den Kopf, versuchte das Zittern zu verdrängen und rieb sich fest und langsam die Beine. Er hörte Seeling schwer atmen, hörte das Wasser gurgeln, hörte einen flüchtigen Wind rauschen, hörte das Meer. Plötzlich klatschte eine schlaffe, weiße Hand auf seinen Fuß und er schob sich erschreckt zurück und drängte sich gegen die hintere Sitzbank, doch immer mittig am Boden des Bootes. Seeling hebelte den Körper mit dem Ruder herein und ein massiger Mann in goldenen Farben rauschte mit Sturzbächen auf den Boden des Bootes. Der Mann schien ein Seufzen von sich zu geben, als er zu liegen kam.
Seeling saß breitbeinig darüber und atmete schnell, aber kontrolliert. Er zog ein Eimerchen unter seiner Sitzbank hervor und schöpfte Wasser aus dem Boot, welches sich zu seinen Füßen sammelte.
Phileas zitterte wieder stärker, ihm war eisig bis in alle Adern.
- Ihr müsst Eure nassen Sachen ausziehen, sagte Seeling. Er kramte eine Decke hevor.
- Hier, sagte er.
Phileas widersprach nicht. Es gelang ihm kaum, seine Hände so zu beherrschen, dass er die klebenden Kleider vom Leib bekam. Er fürchtete wieder ins Wasser zu fallen, ebenso, auf den Toten zu treten. Es dauerte unerträglich lang, aber schließlich kauerte er auf der Sitzbank, die Arme und die Decke wirr um sich geschlungen. Allmählich wurde sein Körper still.
Seeling ruderte wieder.
Nun besah er sich den Toten genauer, der sich zusammengekrümmt von seinen bis zu Seelings Füßen erstreckte.
- Der ist tot, sagte er.
Der Mann konnte noch nicht allzu lange im Wasser getrieben sein, er war weder aufgequollen, noch angeknabbert, nur unnatürlich bleich. Seine feisten Wangen und seine stattliche Statur und seine teure Kleidung wiesen auf ein erfülltes Leben.
- Der ist tot, sagte Seeling.
Der feuchte und hohle Ton, mit dem Seelings Jolle an den Steg stieß, schreckte Phileas aus wirren Betrachtungen.
- Wir, sagte er.
Seeling vertäute das Boot an einem Pfahl und setzte sich auf seine Ruderbank.
Etliche Stege reihten sich aneinander. Das Wasser darunter war schwarz und schmatzte. Hütten und Wege waren nah am Ufer. Menschen waren nicht zu sehen. Es war still und der Himmel war hoch und dunkel.
Als Phileas weiter nichts sagte, holte Seeling Tabak und Papier hervor und drehte sich bedächtig eine Zigarette.
- Ich auch, sagte Phileas.
Der Junge reichte ihm seine, nachdem er sie mit einem Schnippen in Brand gesteckt hatte, kratzte letzte Krümel aus seinem Beutel zusammen und drehte noch eine.
Phileas paffte und hustete.
- Ich fasse kurz zusammen, sagte er, ich habe aus, was weiß ich, Überdruss oder Unvermögen heute meine Lehrer zusammengerufen, das Treffen mutwillig geschwänzt, mich erfolglos betrunken, mich ziellos versteckt, mein, tja, Leben zertreten und nun sitze ich hier nackt bei einer Leiche aus dem Meer. Und ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll.
- Erstmal mich bezahlen.
- Ach ja, ich vergaß, ich hab auch kein Geld mehr.
Seeling schien es gelassen zu nehmen.
- War klar.
Phileas war es, als griffe ihm jemand in die Gedanken, als rufe ihn jemand dringlich, schließlich, als zerre jemand an ihm. Er wäre einer Leine gefolgt, wenn nicht alle seine Glieder so entleert gewesen wären. So konnte er sich nicht rühren und keinen klaren Gedanken fassen.
- Die Decke ist warm, sagte er.
- Es ist eine echte keyerische Seetangdecke, sagte Seeling stolz.
Phileas war eingeschlafen.
Seeling besah sich sein Unglück. Ein Toter und ein Schlafender in seinem Boot, tief in der Nacht. Die Kälte begann in seine müden Muskeln zu kriechen und seine gute Decke hatte er verliehen.
Aber das Rauchen entspannte ihn und irgendwoher nahm er die vage Hoffnung, dass dieses Abenteuer ihm etwas Geld und vielleicht sogar seine Mogelbrasse verschaffen könnte.
Also stöberte er seine Wolljacke hervor. Er legte sich zurück in den Bug, die Beine auf der Ruderbank, denn darunter lagen die Beine des Toten. Er rauchte und sah in den Himmel. Er war müde und zufrieden, aber nicht schläfrig.
Zögernd ging der Mond auf. Das Meer schaukelte und gluckerte gesättigt. Seeling säuberte sich hingebungsvoll die Nase.
- Dort drüben wird es sein, sagte jemand und Seeling hörte schwere, bedächtige Schritte auf den Holzweg treten. Phileas schlief.
Drei Gestalten erschienen in Seelings Gesichtsfeld. Sie standen am Rand des Stegs und sahen auf das Boot herab.
- Er schläft tatsächlich, sagte einer mit raspelnder Stimme.
- Wir sollten ihn einfach rausschmeißen, lohnt die Mühe nicht, sagte ein zweiter ungeduldig.
- Nein, wie ich gesagt habe, dies ist die Ursache für die Verzerrung, Rom.
- Junge, würdest Du bitte Deine Passagiere wecken?, wandte sich der Ungeduldige an Seeling.
Seeling konnte erst jetzt reagieren.
- Jawohl, ihr Herren. Aber der eine ist tot.
- Wie ich Euch gesagt habe. Eine schwere Verzerrung.
- Weck ihn doch nicht.
- Herr?
- Lass ihn schlafen.
Nun schienen sie sich zu beraten, allerdings konnte Seeling nur undeutliches Gemurmel hören.
- Ihr Herren, sagte Seeling, im Wasser.
- Warte bis wir entschieden haben.
Wenig später hörte Seeling Hufe und einen rasselnden Wagen, dann weitere Schritte auf dem Holzweg, weitere Menschen auf dem Steg.
- Die drei Körper, sowie das Boot sind ins Mondlabor zu bringen, unverzüglich, befahl die Raspelstimme.
Seeling konnte nicht widersprechen und konnte sich nicht rühren. Er sah sich von außen zu, wie er selbst mitsamt seinen Passagieren, ob nun schlafend oder tot, aus seinem Boot gehievt wurde und sich nicht rühren konnte.
Phileas erwachte, hängend in einem Tuchstuhl mit Armlehnen. Sein Rücken drängte schmerzhaft darauf sich aufzurichten, aber sein Kopf warnte, er würde zerspringen, wenn man ihn bewegte, ganz gleich in welche Richtung. Vor Phileas stand Meister Romzest.
- Oh, Scheiße, seufzte Phileas, ruckte zurück und sein nackter Unterleib rutschte aus der Seetangdecke heraus, die ihn noch immer einhüllte. Sein Kopf zersprang.
- Er ist wieder anwesend, sagte Romzest und wandte sich ab. Wehe, irgendwer kommt auf die Idee ihm seine Kopfschmerzen zu kurieren!
Meister Ilas war ebenfalls da.
- Los hilf ihm hoch, wir können hier keinen Clown brauchen, wies er einen jungen Mann in weißem Rock an. Und besorg ihm Kleidung.
Phileas wurde unsanft unter den Achseln gepackt und hochgezerrt. Die Decke verlor er dabei ganz. Er wimmerte. Sein Kopf schwamm.
Phileas hörte Meister Romzest zum ersten Mal lachen, allerdings endete er in einem abwehrenden Stoßseufzer. Phileas klaubte die Decke auf und versuchte mit eingezogenem Kopf unter dem Schmerz hindurchzutauchen.
- Bitte, ich, jammerte er.
Schnell führte ihn der Weißrock zum Abort. Dort kotzte und pinkelte Phileas zugleich. Zum Glück hatte er noch nichts angezogen.
Später saß Phileas am Boden in der Ecke des Labors, den Kopf schief an der Erdachse ausgerichtet, ein Auge verkniffen. So blieben der Schmerz und seine Umgebung wenigstens halbwegs sesshaft. Er trug ein weißes Hemd, einen weißen Rock, beides kratzte bissig auf der Haut und so hatte er auch die Seetangdecke wieder an sich gezogen. Die drei Meister und ihre Assistenten schenkten ihm keine Aufmerksamkeit mehr und er konnte sich sammeln, während er die Szene von unten beobachtete.
Es handelte sich um einen karg eingerichteten, blassblauen Raum, an der Stirnseite ein großes steinernes Becken, welches ständig von frischem Wasser gespeist wurde, und ein wuchtiger, hoher Arbeitstisch in der Mitte. Phileas erkannte sogleich das Mondlabor, obwohl er den Raum noch nie betreten hatte, denn er war einzig wenigen Meistern vorbehalten. Erhellt wurde das Labor allein durch verspiegeltes Mondlicht.
Das Besondere des Raumes war aber nicht seine Einrichtung, sondern seine Lage, die bei allen Mondständen ungewöhnliche Energieflüsse erlaubte.
Die Leiche, welche Phileas und Seeling aus dem Wasser gefischt hatten, war auf den Tisch gelegt worden. Etwas Seewasser hatte sich am Boden gesammelt. Die drei Meister gingen langsam um den Tisch herum, untersuchten den Toten aufs Genauste, ohne ihn jedoch anzufassen. Die beiden Assistenten warteten in respektvollem Abstand.
Die Gesichter der Hohenkünstler waren ernst und sie hielten stumm Zwiesprache.
- Nun gut, sagte Meister Rugbur raspelnd zu einem der Wartenden, hier, nehmen Sie meine Kette und wecken Sie Meister Jolen und Hochmeister Tifur.
Der Assistent verließ den Raum durch eine schwere Eichentür.
- Es bleibt die Frage nach dem Schiff, sagte Romzest.
- Irgendwann musste so etwas geschehen, brummte Rugbur.
- Es hätte bemerkt werden müssen.
- Grad in den letzten Wochen waren wir wachsam.
Das Gespräch zog sich wieder in ihre Gedanken zurück und Phileas würde sich trotz seiner Neugier unter keinen Umständen da hineindrängen.
Als Erster betrat Meister Jolen das Labor. Sobald er den Mann auf dem Tisch wahrgenommen hatte, trat er heran und legte ihm seine Hand auf das Gesicht. Dann presste er den großen Brustkorb und schnupperte an der Nase des Toten. Schließlich nahm er eine Hand und drückte kurz jeden einzelnen Finger.
- Ja, Sie haben Recht, sagte er.
Wieder öffnete sich die Tür und der Hochmeister Tifur stapfte herein, ein uralter, stämmiger Mann mit weißem Haar und ungeniert im Nachthemd.
- Rugbur, ich hoffe Du hast!, brummte er und dann sah er den Toten.
- Ha, rief er, geradezu freudig, ein Valese! Ist er tot?
- Allerdings, sagte Meister Jolen.
- Na, dann wird er morgen früh auch noch da sein, gute Nacht, meine Lieben, sieben Uhr.
Die Anwesenden lauschten, bis die stampfenden Schritte des Hochmeisters verklungen waren.
- Ich werde ihn mir genauer ansehen, sagte Meister Jolen schließlich, nutzen Sie die zwei Stunden und ruhen Sie etwas.
Romzest trat auf Phileas zu.
- Du kommst mit mir, aufstehen. Und der Junge. Wo ist der verdammte Junge?
- Der Junge, fragte Vilas. Haben wir den mitgebracht?
Rugbur schloss die Augen.
- Wie soll man denn so eine kleine Wasserkröte finden?, brummte er.
- Meister, ich weiß, wohin er gelaufen ist, rief Phileas.
Er hatte nicht die geringste Ahnung.
- Meister!
Rugbur öffnete die Augen und sah ihn mit verschleierten Augen an. Er brummte unwillig.
- Doch, Meister, er hat ein Versteck hinter der Südmauer, direkt an den Froschteichen, bestimmt ist er.
Phileas’ Zunge wurde schwer, als Meister Vilas ihm hart seine Hand auf die Schulter drückte. Phileas ging schwerfällig zu Boden und kaute sabbernd auf seiner tauben Zunge.
Romzest flüsterte derweil mit den beiden Assistenten und die verließen eilig das Labor.
Etwas später saß Phileas in Meister Romzests Arbeitsraum, in der Ecke neben dem gewaltigen Schreibtisch auf einem geschundenen alten Schülerstuhl. Die Morgensonne traf die milchigen Scheiben und wirbelte Staub auf. Eine große schlanke Morgenamone, die sich neben ihm bis zur Decke erstreckte, begann sich sanft zu wiegen und ihre Kelche zu öffnen. Phileas saß mit strengem Rücken und taubem Kopf und versuchte sich auf die Mantras zu konzentrieren, die es ihm ermöglichen sollten, im Sitzen einzuschlafen. Doch ohne die Worte mit leiser Zunge zu verfolgen, war ihm das unmöglich, er hatte noch nie genug Geduld für derlei Übungen aufbringen können.
Romzest saß mit gebeugtem Rücken am Schreibtisch und las durch sein Augenglas ein knittriges Schriftstück. Das Augenglas gebrauchte er selten genug in der Öffentlichkeit und mit krummen Rücken hatte Phileas den Meister noch nie gesehen. Er wirkte wie eine alte Schnecke, die sich in ihre Behausung krümmt.
Ohne von seiner Lektüre aufzusehen, sprach er:
- Ich werde Ihnen jetzt Ihren kleinen Zungenkrampf lösen. Sie werden nur sprechen, wenn ich Sie etwas gefragt habe. Falls nicht, werde ich Ihnen noch mehr Krämpfe einimpfen, aber die werden nicht schmerzlos sein. Verstanden?
Phileas blickte unterwürfig.
Der Meister stand auf und Phileas verspürte, wie sich ein Knoten in seinem Mundraum löste, langsam streckte sich seine Zunge vor und drückte sich über seine flache Unterlippe ins Freie. Phileas wiederholte den erlösenden Vorgang mehrfach, mit wachsender Freude daran, Romzest seine Zunge zu zeigen.
- Schließen Sie die Augen, befahl Romzest, und sagen Sie mir, wie viel Menschen, abgesehen von Ihnen selbst, sich in dieser Kammer befinden.
Phileas tat wie geheißen und tastete mit seinem inneren Auge die Umgebung ab.
- Nur Ihr, Meister.
- Zeigen Sie auf mich.
Phileas wollte schon instinktiv in Richtung des Schreibtischstuhls weisen, doch dann stutzte er.
- Ihr seid nicht mehr dort, woher ich Eure Stimme höre. Ihr seid drüben in der Ecke.
- Gut, entgegnete Romzest. Nun halten Sie die Augen weiter geschlossen und kommen Sie zu mir ans Fenster.
Phileas hatte den Raum parat, ohne ihn sich bewusst eingeprägt zu haben. Er machte einen knappen Bogen um den Schreibtisch, drängte sich zwischen zwei Sesseln hindurch und trat neben Romzest.
Der hatte einige Papiere auf einen Sessel gelegt und zerriss nun etliche Spinnweben, indem er das widerspenstige Fenster öffnete.
- Ach, frische Luft, seufzte Phileas.
- Wieviele Leute sind im Hof, fragte Romzest und überzeugte sich, dass Phileas noch immer die Augen verschlossen hielt.
Phileas zögerte:
- Fünf einzelne, sagte er, wobei – der fünfte steht etwas erhöht, könnte also auch aus einem Fenster gucken oder in einem Baum sitzen. Und eine Gruppe von, vielleicht vier Leuten. Einer erscheint etwas fülliger, vermutlich ein Meister mit Schülern.
Romzest reagierte nicht boshaft oder gelangweilt, wie es seine Gewohnheit war.
- Es gibt absolut keinen Grund, hier dumme Witzchen zu machen. Sie verkomplizieren nur die Zusammenhänge und ich verlange in aller Ernsthaftigkeit, dass Sie dies jetzt abstellen. Ist Ihnen das möglich?
Phileas war, als ob eine geballte Faust sich in sein Hirn schöbe und sich dort drohend schüttelte. Er schluckte trocken.
- Ja, sagte er kleinlaut.
- Augen zulassen. Wieviele Schiffe sind von hier aus in der Bucht zu sehen?
- Zwei, und eines kommt hinter dem Felsen hervor. Und ein kleines Ruderboot, vielleicht.
- Wieviel Möwen tanzen um das größte Boot?
- Äh. Also, das größte Boot ist, so glaube ich, dieses. Phileas wies mit der Hand. Im Osten. Aber die Möwen. Sind da Möwen? Also, das kann ich nicht sagen, Meister.
- Gut, Sie können die Augen öffnen, sagte Meister Romzest müde, Sie haben ganz beachtliche Fähigkeiten für Ihr Alter.
- Danke, Meister.
- Nehmen Sie Platz.
Romzest wies tatsächlich auf einen der Sessel. Dann schlug er einen kleinen Gong. Ein kleiner Junge öffnete die Tür.
- Wir brauchen zwei dolische Schwarzkaffee!, rief Romzest.
- Los setzen Sie sich.
- Auf den Sessel?
- Setzen Sie sich, wiederholte Romzest und ließ sich schwer ins Sofa fallen.
Sie schwiegen eine Weile.
- Sie sehen mich hier, fing Romzest an, in meinem ganzen Alter und in meiner ganzen Müdigkeit und es ist mir nicht angenehm, dass Sie mich so sehen.
Er rückte sich umständlich in eine aufrechtere Sitzposition und fuhr leiser fort:
- Aber anscheinend soll es so sein. Ich hab es wohl verdient, so alt zu werden.
Es wurde geklopft und nach einem Anstandshorchen die Tür geöffnet. Herein kam der Knabe mit zwei großen Schalen dampfenden Kaffees. Romzest griff nach einer und trank zügig, ohne sich zu verbrühen. Phileas merkte rechtzeitig, dass er warten sollte, bis seine Tasse abgekühlt war.
- Ich kann Sie wegen Ihrer Unverantwortlichkeiten nicht besonders leiden, Phileas. Oder vielleicht bin ich neidisch darauf, das könnte auch sein. Ich weiß, dass Sie eigentlich ein recht anständiger Mensch sind und dass Sie. Ich verlasse mich darauf, dass Sie mit mir ernsthaft umgehen.
- Ja, Herr.
- Sie haben in dieser Nacht einen großen Fund gemacht und wir fürchten, dass er uns nichts Gutes bringen wird. Es ist wichtig, dass Sie versuchen, mir möglichst genau zu schildern, wie die Wahrnehmung aussah, die sie auf den Toten aufmerksam gemacht hat. Beschreiben Sie Farbe, Form, Entfernung, Umgebung, Rhythmus, Randflimmern, alles.
Phileas rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen.
- Meister Romzest, hättet Ihr vorher etwas gegen meinen Kater?
Der Meister spannte sich an, um aufzustehen, doch dann brachte er nur ein unwilliges Handwedeln in Richtung des Schreibtisches zustande und sagte:
- In dem Perlmuttdöschen, nehmen Sie eine von den blauen.
Phileas trat hinter den Schreibtisch, öffnete mit spitzen Fingern die bezeichnete Dose und er konnte es kaum fassen, eine solche Fülle an vielversprechenden Pillen dort vorzufinden. Er war versucht, eine ganze Menge unauffällig in seinen Hemdsärmel gleiten zu lassen, riss sich aber mit einem leichten Zucken zurück. Er schluckte eine der blauen Reinigungspillen und schnaufte tief, als ein wohltuend frischer Wind seinen Kopf frei blies.
- Gut, dass Sie die Dose wieder geschlossen haben, sagte Romzest ohne aufzublicken. Ich frage mich allerdings, woher Sie wussten, welche blauen Pillen ich meinte.
- Ihr wolltet doch von meiner Wahrnehmung hören, sagte Phileas und fügte nur halb im Scherz an: Also gegen den Inhalt der Dose, erzähle ich euch rundweg alles.
- Das wäre allerdings eine ziemlich kostspielige Methode, Ihre Frechheiten loszuwerden, Phileas, führen Sie mich nicht in Versuchung! Bruder Pelikan würde die kichernden Blasen und Scherben ihres Geistes sicher gern zu Versuchszwecken in kleine Reagenzgläser packen.
- Tschuldigung, sagte Phileas kleinlaut, sammelte sich und sein gestriges Erlebnis und beschrieb so ausführlich, wie er es in den Übungsseminaren gelernt hatte, den Wahrnehmungsbruch, der ihn auf die Spur der Wasserleiche gebracht hatte.
- Kein Schiff in der Nähe, brummte Romzest vor sich hin.
- Nein, kein Schiff, bestätigte Phileas.
Romzest schloss wieder die Augen und Phileas war es, als hörte er ein leichtes Schnarchen.
- Kann es sein, dass die Corona leichten Blaustich hatte?
- Ein windiges Nordhimmelblau?
Romzest öffnete die Augen und versteifte sich.
- Genau!
- Habe ich die Corona nicht schon beschrieben?
- War sie bläulich?
Phileas pulte nachdenklich in seinem Ohr.
- Ich glaub, da war keine Corona.
- Überhaupt keine?
- Wär doch auch seltsam bei einem Toten.
Romzest schien etwas entgegnen zu wollen, doch stattdessen brummte er ein Achselzucken und versank wieder im Sofa.
Nach einer Weile riss er sich wieder zusammen und in die Höhe und sagte mit blitzenden Augen.
- Wir gehen zurück ins Mondlabor. Sie bleiben hinter mir und halten den Mund. Wenn der Hochmeister sie ausfragt, dann spielen sie keine Spielchen, sondern antworten einfach und klar. Der rupft Ihnen sonst Ihre Erinnerung mit einem Wimpernschlag raus und legt sie unter ein Mikroskop, da erfährt er viel schneller und umfassender, was er wissen möchte. Klar?
- War das wirklich Hochmeister Tifur?
Als sie das Labor betraten, fanden sie dort Meister Jolen vor, der den Toten abtastete, welcher nun ganz entkleidet war. Phileas erschrak, als er sich einer Figur gegenüber sah, welcher man die Kleidung der Leiche angezogen hatte. Die Kleidung war getrocknet worden.
- Irnoff, verdammt, wie kannst Du es wagen, hier mit Waffen zu erscheinen!, rief Romzest und Phileas erblickte einen großen Mann, der mit ungerührtem Gesichtsausdruck an der Wand hinter der Tür lehnte
Er hatte seine Arme verschränkt und sah aus wie einer Bildergeschichte entkommen. Er trug eine Jacke aus roh gegerbtem Leder, eine undefinierbare Hose, hohe Stiefel. Sein Hals und sein halbes Gesicht verbargen sich hinter einem erdfarbenem Schal. Und er trug Waffen, einen kurzen Bogen, der mit gelöster Sehne und zusammen mit schwarz gefiederten Pfeilen in einem Köcher steckte, eine blanke Streitaxt an seiner Seite und ein schmales Messer im Gürtel. Phileas hatte dergleichen noch nie gesehen.
Die dunklen Haare trug der Mann zu einem strengen Zopf geflochten, aber seine Augen waren dennoch umschattet.
- Ja, lange nicht gesehen, Rom, entgegnete er mit ruhiger Stimme. Soll ich Dir den Kopf abschlagen?
- Was hast Du hier suchen? Romzest mäßigte seine Stimme.
- Tifur hat mich rufen lassen. Ich hatte darauf gewartet.
- Wir brauchen keine Waffen!
- Kann aber auch nicht schaden, wenn meine Axt hier ist, während Ihr in dem Toten rumwühlt.
Phileas versuchte derweil, sich hinter der Kleiderpuppe zu verbergen, konnte aber auch nicht aufhören das stahlglänzende Blatt der Axt anzustarren.
- Wer ist der?, fragte Irnoff und ruckte seinen Kopf in Phileas Richtung.
- Könntet Ihr bitte Ruhe geben, rief Meister Jolen dazwischen.
- Sonst wecken wir ihn noch auf, brummte Irnoff.
- Eben, sagte Jolen. Er trat einen Schritt zurück, reckte seinen Hals und ließ die Knochen knacken. Neben ihm stand Großmeister Tifur, ohne dass Phileas hätte sagen können, wie er hineingekommen war. Er trug eine einfache Tunika und nichts wies auf seine herausragende Stellung hin, abgesehen von dem beunruhigenden Strahlen seiner Augen und dem großen blassgrünen Bernstein, den er an einer Kette um den Hals trug. Phileas konnte es zwar nicht erkennen, wusste aber, dass darin eine urzeitliche zehnbeinige Herbstspinne gefangen saß, zehn Beine für die zehn Hochkünste, die ursprünglich am Hohen Berg gelehrt wurden.
- Wie zu vermuten war, Großmeister: keine äußeren Anzeichen für die Todesursache, keine Verwesung. Man sollte ihm schnell seine Kleider wieder anziehen.
Tifur brummte.
- Beachtet die verengten Zehen, sagte er, dieser Mann gehört zur Soldatenkaste.
- Und die Kleidung?
- Die hat sich jemand viel Kosten lassen.
- Und zwar nicht er, ergänzte Irnoff.
- Zieht sie ihm wieder an, sonst fängt er bald an zu stinken, sagte Tifur. Ich werde mich derweil mit unserem kleinen Entdecker unterhalten.
Phileas beugte den Kopf.
- Wenn ich mich gleich in seine Erinnerungen bohre, was werde ich finden, Phileas?
- Äh, Angst?
Damit sprach Phileas nur aus, was ihn selbst plötzlich mit Nennung seines Namens ergriffen hatte.
Tifur schwieg und sah zur Seite.
- Recht. Ich sollte mich mit dieser Frage nicht beschäftigen.
Wieder schwieg der Hochmeister. Er schüttelte eine Vorstellung ab und sprach:
- Du bist Student der Phantasiemalerei, also male mir vor Augen, wie Du ihn gefunden hast.
Wird der kleine Student seinen Meister besänftigen können?Wird er sich selbst besänftigen können?
Wo ist die kleine Wasserratte Seeling?
Was deutet sich hier an?
Nur zu!
P.S.: Ich schwöre bei den ewigen Erdbeerfeldern, dass ich das Wort "Corona" schon 2012 in dem Text benutzt habe!